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Die englische Autorin George Eliot berichtet von Ihren Eindrücken aus der Goethestadt Weimar.

"Geeignete Dosis für den Gläubigen"

Harriet Beecher Stowe

Die amerikanische Schriftstellerin Harriet Beecher-Stowe (1811–1896) entstammte einer streng religiösen Familie und war mit dem Theologieprofessor Calvin Ellis Stowe verheiratet. Weltweit bekannt wurde sie mit ihrem Roman Onkel Toms Hütte, der 1852 erschien und mit dem sie sich gegen die Unmenschlichkeit von Sklaverei ausgesprochen hatte.

Mit ihrem Bruder Charles Beecher (1815–1900), der Pfarrer, Autor und Komponist geistlicher Hymnen war, und dessen Frau Sarah Leland Coffin bereiste sie ein Jahr später Europa. Ihre Eindrücken hielt sie in dem Buch "Sunny memories of foreign lands" fest. Im 42. Brief, datiert auf den 4. August, 10 Uhr, beschreibt sie die Besichtigung des Kölner Doms und der Basilika St. Ursula samt Goldener Kammer mit den Reliquien der elftausend Jungfrauen.

 

Liebe – ,

die große alte Stadt liegt vor mir. Sie überragt den Rhein, der sich ausbreitet wie ein geschmolzener Spiegel, der zittert und vibriert und die tausend Lichter der Stadt zurückwirft. Wir waren den ganzen Tag auf dem Rhein und sind an seinen malerischen Landschaften vorbei gesegelt.Aber ach! Ich hatte Kopfschmerzen, das Boot war überfüllt, alle rauchten Tabak und unter solchen Umständen hat man nichts von der Schönheit der Natur. Es reicht nicht, die Augen offen zu halten, man muss mit ihr im Einklang sein. In der geistigen Welt sehen wir manchmal große Wahrheiten – dass Gott wunderschön und herrlich ist, aber zu anderen Zeiten empfinden wir sowohl die Natur als auch Gott, und oh, wie sich Anblick und Gefühl unterscheiden! Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte heute wirklich Heimweh. Ich lehnte den Kopf an die Reling und dachte an eine sofortige Flucht – alle Termine auf dem Kontinent und in England absagen und ab nach Hause! Ist es nicht absurd, dass ich mich nach ein paar Tagen auf einer Reise, von der ich so lange geträumt habe, so fühle – dass ich wirklich denke, ich hätte lieber ein paar mehr von unseren schönen Spaziergängen in Andover machen sollen, als alles zu sehen, was Europa zu bieten hat?

Heute Morgen haben wir den Kölner Dom besucht. Sein Äußeres hat mich ebenso enttäuscht wie Straßburg, aber wer könnte von seinem Inneren enttäuscht sein? Seine empor strebenden Bögen haben etwas Erhabenes – diese Säulen wirken so leicht – man hat das Gefühl, man würde in die Lüfte schweben wie eine Wolke. Dann die unzähligen Verästelungen und endlosen Perspektiven, ein Bogen über oder in dem anderen, eingefärbt von dem Licht, das durch die bunten Scheiben fällt, und alles erfüllt vom Klang des Gesangs und der Orgel, der sich hob und senkte wie das Rauschen des Meeres. Es war eines der wenigen überwältigenden Dinge, die einen sofort in höhere Sphären katapultieren und keine Zeit für die kalte Frage lassen: Bin ich zufrieden? Ja, sagte ich mir, als ich fasziniert durch diese heiligen Hallen wandelte und sah, wie der Weihrauch in Wolken aufstieg und die Priester niederknieten und ich die ergreifenden Stimmen des Chors hörte – ja, eine Seite des Menschen verlangt nach solchen Gottesdiensten, nach sichtbaren Bildern von Größe und Schönheit.  Die Summen, die für diese Kirchen ausgegeben wurden, sind ein erhabener prächtiger Protest gegen den Materialismus – dagegen, Geld nur für die primitiven tierischen Bedürfnisse des Lebens zu verwenden und aus dem Gotteshaus eine kahle Klause zu machen, in dem die Leute nur sitzen, um über ihre Pflichten belehrt zu werden.

Aber einen Augenblick später kam mir die andere Seite der Frage wieder jäh in den Sinn. In einer dunklen Ecke befand sich ein schmuckloser Schrein aus rot gestrichenem Holz und darin saß eine Puppe. Sie war mit Pailletten und Lametta geschmückt und sollte die heilige Jungfrau darstellen. Außerdem war sie über und über mit kleinen wächsernen Armen, Händen, Füßen und Beinen behängt – ich nehme an, als Dank für Wohltaten, die sie ihren Jüngern erwiesen hatte. Vor diesem Schrein knieten mehrere arme Menschen mit gefalteten Händen und gesenkten Köpfen und beteten mit einer Inbrunst, deren Anblick traurig war. „Sie haben ihren Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“(1) So wirkt dieser Götzendienst auf die Ungebildeten und die Armen. Aber würden wir – wenn wir es könnten – Kathedralen wie die in Straßburg und Köln vom Gesicht der Welt tilgen? Ich diskutierte die Frage nach äußerlichem Pomp und Ritualen mit mir selbst, während ich entschlossen eine steinerne Balustrade auf dem Dach der Kirche umrundete und durch die Pfeiler schaute – auf den breiten Strom des Rheins und die seltsamen, altmodischen Häuser und Türme der Stadt. Ich dachte an den Prunk jüdischer Rituale und Tempel, von Gott selbst geschaffen. Ich fragte mich, wo in der Bibel stand, dass solche Rituale verboten seien, wenn die Menschen nun einmal das Bedürfnis danach hatten, und dann dachte ich an die Unbildung und stumpfsinnige Abgötterei in den Ländern, in denen diese Religion ihre größten Einfluss hat, und überlegte, ob diese beiden Missstände unvermeidliche Begleiterscheinungen solchen Glaubens sind oder andere Ursachen haben. Die jüdische Religion hatte in einem viel sinnlicheren Zeitalter ihren Cherubim als Skulptur, ihre Fülle an künstlerischer Darstellung, ihre prächtigen Priestergewänder, ihren Weihrauch und ihre Gesänge – und so weit wir wissen, wurde all das nie zum Gegenstand von Götzendienst.

Aber am liebsten schwelge ich im Anblick der Kathedrale – diese Bögen, bei deren fröhlicher Leichtigkeit ich das Gefühl habe, dass sie nicht von Menschenhand geschaffen wurden, sondern durch Zauberkraft emporgeschossen sind – aufgestiegen wie jemand, der in den Himmel will, eine Verkörperung der Seele, die in die Höhe strebt, um mit Gott in Verbindung zu treten. Diese gehobene Stimmung hielt ungefähr fünf Minuten an und war all die Unannehmlichkeiten wert, die wir auf dem Hinweg erlebt hatten, und wir können nur für so kurze Zeit genießen – dann schließt sich unsere Gefängnistür.

Vier bunte Glasfenster sind ein Geschenk des Königs von Bayern. Ich habe Fotos von zweien dieser Fenster gekauft, die die Geburt und den Tod Christi zeigen. Es sind herrliche Gemälde der ersten Meister. Die Fenster rund um den Chor waren in einem Stil gemalt, der mich an unsere Herbstwälder erinnerte.  

Auf unsere erhabenen Gefühle folgte eine Farce. Wir gingen in die Kirche St. Ursula, um die Knochen der elftausend Jungfrauen zu besichtigen, die laut der Chronik hier umgebracht wurden, weil sie ihr Keuschheitsgelübde nicht brechen wollten. Ich war sehr amüsiert. Als wir die Kirche betraten, bemerkte C. (2): „Es ist offensichtlich, dass diese Jungfrauen nichts mit Kölnisch Wasser zu tun haben!“ Diese Tatsache ließ sich leider nicht abstreiten. Bekümmert aussehende Gestalten, gemalt in allen Farben des Regenbogens, schauten aus allen Richtungen auf uns herab und ganz vorn in einem gläsernen Rahmen befand sich ein Verzeichnis der Reliquien, die man besichtigen konnte. C. las die Liste laut vor und dann gingen wir in ein kleines Nebenzimmer, um die Ausstellung zu sehen. Oben an den Wänden hingen kleine Knochen, die an Drähten befestigt und als kunstvolle Arabeske arrangiert waren, etwa so, wie Muschelkästchen gemacht werden. Der untere Teil zeigte silberne und goldene Büsten, die immer noch die endlosen elftausend darstellten. Die halb offene Tür eines Schranks gab den Blick auf Regale voller Schädel frei, die mit kleinen Satinmützen, Krönchen und Modeschmuck verziert waren. Die Schädel, so teilte man uns mit, stammten wirklich von diesen ehrfurchtgebietenden Damen. Am anderen Ende des Zimmers war eine Bühne errichtet, auf der die allerheiligsten Reliquien ausgestellt wurden, bewacht von einem Priester in langem schwarzen Gewand. C. und ich gingen auf die Bühne, um uns weiterzubilden. S. (3),  die wegen des bereits erwähnten Fehlens von Kölnisch Wasser sehr schlechter Laune war, hielt majestätisch Abstand, aber C. gab sich als überzeugter Mann des Glaubens und ließ sich unterweisen.

„Das“, sagte der Priester in jammerndem Ton – es war genau die richtige Mischung aus Klage und Anbetung – , „ist der Ring der heiligen Ursula.“(4)

„Wirklich“, sagte C., „ihr Ring!“

„Ja“, sagte der Priester, „er wurde in ihrem Sarg gefunden.“

„Er wurde in ihrem Sarg gefunden – stell dir das mal vor!“ sagte C. und wandte sich ernst an mich.

Ich musste in eine andere Richtung schauen, als der Priester der Reihe nach vier bemerkenswert gelbe Schädel mit geschmackvoll genähten roten Mützen als die der heiligen Ursula und ihrer engsten Freunde vorstellte. S. sah herrlich empört aus und C.s Miene wurde immer ernster.

„Hier“, sagte der Priester und öffnete einen Kasten aus Elfenbein, in dem sich ungefähr ein Quart Zähne in verschiedenen Größen befand, „sind die Zähne der elftausend.“

„Wahrhaftig“, echote C., „ihre Zähne!“

Daraufhin bekam S. einen wunderbaren Wutanfall und – wie ein Romanautor sagen würde – rauschte aus dem Zimmer. Ich drehte mich um und schüttelte mich vor Lachen, während der Priester fortfuhr.

„Hier ist eine Rippe des heiligen – “

„Ah, seine Rippe, tatsächlich!“

„Und hier ist der Pfeil, der das Herz der heiligen Ursula durchbohrt hat.“ (5)

„H.“, sagte C., „hier ist der Pfeil, der die heilige Ursula getötet hat.“ (Der Taugenichts wusste, dass ich lachte!)

„Und das hier ist ihr Haarnetz.“

„Das trug sie also auf dem Haar“, sagte C und betrachtete den Lumpen mit melancholischem Ernst.

„Und hier ist etwas Blut des Märtyrers Stephanus“ (6), sagte der Priester und hielt ein Glas mit etwas Matsch hoch.

Danach zeigte er uns noch zwei Dornen aus der Krone Christi und ein Stück vom Unterrock der Jungfrau.

„Und hier ist der steinerne Krug, dessen Wasser unser Herr auf der Hochzeit zu Kana (7) in Wein verwandelte.“

„Tatsächlich“, sagte C. und musterte ihn mit großem Interesse, „wo sind die anderen?“

„Welche anderen?“ fragte der Priester.

„Nun ja, ich dachte, dass es sechs Krüge waren. Wo sind sie?“

Der Priester fuhr einfach mit der alten Geschichte fort. „Das ist aus Rom gekommen und das Stück, das herausgebrochen ist, ist noch in Rom.“

Ich gestehe, dass ich während dieses abstoßenden Vortrags etwas von S.s Empörung nachfühlen konnte, und ich musste ihr zustimmen, dass der Geruch der Heiligkeit, der hier herrschte, alles andere als angenehm war. Ich sehnte mich danach, dem Mann einmal direkt in die Augen zu schauen, um zu sehen, ob er wirklich so dumm war, wie er tat, aber die Lächerlichkeit der Situation überwältigte mich, so dass ich nicht aufblicken konnte, und ich marschierte schweigend hinaus. Die ganze Kirche ist ebenso voller Jungfrauen. Das Altarbild zeigt das Gemetzel und ist nicht schlecht gemalt. Durch Glasfenster kann man sehen, dass die Wände mit Knochen und Schädeln gefüllt sind. Sind die Ägypter tiefer gesunken, was abscheulichen Götzendienst betrifft? Ich hatte von solchen Dingen gehört, aber es ist eine Sache, von ihnen zu hören, und eine andere, sie im Licht dieses neunzehnten Jahrhundert zu sehen, in einer Stadt, deren Straßen aussehen wie die jeder anderen, und deren Männer und Frauen einem vorkommen wie die Leute überall. Hier sahen wir an einem Morgen die Pracht und die Verdorbenheit des römischen Systems. Von den majestätischen Bögen und dem triumphierenden Gesang ist es nur ein Schritt zur Vergötterung der Knochen Verstorbener und des Schmutzes.

Wir gingen auch in die Jesuitenkirche. Ich sah eine Unmenge kitschigen, schäbigen Prunks, abgesehen von dem Geländer des Chors – eine prächtige Arbeit, in einen einzigen Block Marmor aus Carrara gemeißelt. Ich denke, der Reiseführer beschreibt nicht weniger als ein halbes Dutzend in Köln als geeignete Dosis für den Gläubigen, aber uns reichten diese drei und wir gingen in unser Hotel zurück. Generell würde ich nicht mehr als drei Kirchen auf nüchternen Magen empfehlen.

Die Stadtmauer von Köln ist ein sehr schönes Exemplar einer Festung (ich zitiere aus meinem Reiseführer) und wir hatten einen vollkommenen Blick darauf, als wir auf dem Rückweg ins Hotel die Bootsbrücke überquerten. Warum man hier eine Bootsbrücke hat, kann ich nicht sagen, vielleicht wegen der Breite und Schnelligkeit des Flusses.

Da ich so viel über den Schmutz und den Gestank in Köln gehört hatte, war ich überrascht, dass die Straßen, durch die unsere Fahrt führte, aussahen wie die der meisten anderen Städte und auch – außer in der Nähe der elftausend Jungfrauen – nicht schlimmer rochen. Vielleicht gibt es schmutzige, übel riechende Straßen, aber die gibt es auch in Edinburgh, London und New York.

[...]

 

***

(1)     Johannes 20, 13; eigentlich: „Sie haben meinen Herrn weggenommen“ (Anm. d. Übers.).

(2) Harriet Beecher-Stowes Bruder Charles Beecher (1815–1900). Ihr Ehemann Calvin Ellis Stowe (1802–1886) war bereits in die USA zurückgekehrt, als die Reisegesellschaft den Kontinent erreichte (Anm. d. Übers.).

(3) Vermutlich Sarah Leland Coffin (1815–1897), Ehefrau des Bruders.

(4) Die heilige Ursula lebte der Legende nach im 4. Jahrhundert n. Chr. in Köln (Anm. d. Übers.).

(4) Der Legende nach starb Ursula durch den Pfeil eines Hunnenprinzen (Anm. d. Übers.).

(5) Stephanus (ca. 1 n. Chr. bis ca. 36/40 n. Chr.), laut Neuem Testament ein Diakon der Jerusalemer Urgemeinde, gilt als erster Märtyrer des Christentums (Anm. d. Übers.).

(6) Johannes 2, 1-12 (Anm. d. Übers.).

(7) Worthington Whittredge  (1820–1910),  amerikanischer Landschaftsmaler (Anm. d. Übers.).

 

***

Aus: Harriet Beecher-Stowe, Erinnerungen an Deutschland. Ein heiterer Reisebericht, herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Nadine Erler, Verlag 28 Eichen, 2019.

 

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