Nordrhein-Westfalen-Lese

Gehe zu Navigation | Seiteninhalt
Nordrhein-Westfalen-Lese
Unser Leseangebot

Hermann Multhaupt erzählt von Goethes Kuraufenthalt in Pyrmont. 

Der Kelch im Fährhaus von Lüchtingen

Hermann Multhaupt

Die folgende Sage macht eine Begebenheit deutlich, wie sie im Dreißigjährigen Krieg im Solling und in den Weserdörfern in ähnlicher Art mehrfach geschehen ist. Denn der junge Welfe Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel wütete gegen alles Katholische und zog ab 1622 räuberisch mordend mit seinen Söldnern durch Westfalen. Als „toller Christian“ ist er in die Geschichte eingegangen.

Der Ort Lüchtringen weist eine geographische Besonderheit auf; es ist das einzige westfälische Dorf auf der rechten Seite Weser, wo alle anderen niedersächsisch sind.

 

Der evangelische Prediger Holtgrewe hatte während der Überfälle des „Tollen Christian“ auf die Dörfer rechts und links der Weser nicht nur sein Haus verloren, sondern auch einen Teil der Familie eingebüßt. So beklagte er den Tod seiner Frau Gerlinde, sowie den Verlust der Kinder Wulf und Albrecht, während Gernot und seine Tochter Margret sowie sein ältester Sohn Friedel mit dem Leben davongekommen waren. Es kam dem Prediger vor, als ereile ihn jetzt die späte Strafe Gottes, weil er vor Zeiten dem Drängen der Familie von Oeynhausen nachgegeben und die Konfession gewechselt hatte. Zuvor war Mönch in der Abtei Marienmünster gewesen, die nun von dem Braunschweiger verwüstet und ausgeraubt worden war. Mit der Zerstörung war auch die wertvolle Bibliothek ein Raub der Flammen geworden.

Holtgrewe war vor seinem Übertritt zu den Lutheranern ein in der Heilkunde bewanderter  Mönch gewesen, der sich mit Pflanzen auskannte, die man zum Wohle und zur Gesundung der Menschen einsetzen konnte. Doch in gleicher Weise kannte er auch giftige Kräuter und Pilze, die manchmal in kleinsten Dosen den im Mörser zerstampften Heilpflanzen beigemischt werden und deren Zusammensetzung sein Geheimnis war. In Friedenszeiten waren viele Menschen in der Hoffnung auf Hilfe zu ihm gekommen, und auch später, als er das Amt eines evangelischen Predigers angenommen hatte, fanden sich einige bei ihm ein, doch meist spätabends, bei Dunkelheit. Eine Vielzahl der Menschen hatte seinen Konfessionswechsel missbilligt und sprach von Verrat an der wahren Religion.

Holtgrewe lebte, nachdem er all seine Habe verloren hatte, mit seinen Kindern in einem Waldhaus, das zwar vom Krieg verschont geblieben war, aber schon lange leer gestanden hatte. Entsprechend war die Bausubstanz heruntergekommen. Das Dach war stellenweise undicht, der Fußboden in den Räumen angefault. Ein übler Schimmelgeruch machte sich in den Zimmern breit und war trotz aller Bemühungen nicht zu vertreiben. Die Familie ernährte sich in der Sommerzeit von Beeren und Früchten, im Herbst kamen Pilze und etwas Korn hinzu, und im Winter verfing sich auch schon mal ein Reh oder Wildschwein in den ausgelegten Fallen. Die Menschen, die noch bei ihm Heilung suchten und ihn zur Schlafenszeit aufsuchten, gaben Holtgrewe von dem Wenigen, das sie besaßen. Manche hatten vor der plündernden Soldateska ein Schwein retten und insgeheim schlachten können, und so erhielt die Waldfamilie gelegentlich ein paar Mettwürste oder den Hinterlauf eines Schweines.

Der Prediger wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Gernot und Margret waren noch zu jung, um zu verstehen, warum der Tisch nicht reicher gedeckt war. Friedel nahm die Sorgen des Vaters verständnisvoller wahr und versuchte, ihnen durch Bettelei in den umliegenden Dörfern zu begegnen. Doch die Menschen ringsum besaßen selbst nichts, das sie entbehren konnten, und so kam der Junge manchmal abends mit leerem Beutel heim.

Holtgrewe wusste, dass neben Marienmünster auch das alte Stift Corvey unter den Kriegseinwirkungen schwer gelitten hatte. Doch er wusste auch, dass nicht alle sakrale Gegenstände den Plünderern zum Opfer gefallen waren. Eines seiner Pfarrkinder hatte ihm anvertraut, dass der Bruder Küster in Corvey, bevor ihn die Schweden in Stücke hauten, einen wertvollen Kelch beiseite geschafft und im Fährhaus in Lüchtringen verborgen hatte. Da dort viele Menschen inzwischen der Pest zum Opfer gefallen waren und das Dorf eingeäschert worden war, musste sich der goldene Kelch, falls das abseits gelegene Fährhaus die Angriffe überstanden hatte, noch in seinem Versteck befinden.

Holtgrewe beschloss, sich den Kelch zu holen und wenn möglich zu Geld zu machen, damit seine Familie überlebe. Gewissensbisse hatte er nicht. Nicht, weil der Kelch dem Kloster Corvey, und damit einer anderen Glaubensrichtung gehörte, sondern weil ein Diebstahl in Zeiten höchster Not wohl gerechtfertigt wäre, wenn es darum ging, Menschenleben vor dem Hungertod zu retten. Denn obgleich das Land ausgeblutet war, Gold behielt noch immer seinen Kaufwert, und es war überwältigend, was man dafür alles erwerben konnte.

Bevor der Prediger nach der anderen Weserseite aufbrach, kochte er aus Wildkräutern und zerriebenen Wurzeln, aus Roter Bete, Steckrüben und Schwarzem-Winter-Rettich eine kräftige Suppe, tat auch ein gehütetes Stück Speck hinein, und beschwor seine Kinder, vor allem den verständnisvollen Friedel, im Waldhaus auszuharren und niemandem die Tür zu öffnen. Am folgenden Spätabend gedachte er wieder zurück zu sein.

Holtgrewe brach in aller Herrgottsfrühe auf. Der Himmel über den schweigenden Sollingwäldern war noch schwarz. Erst allmählich überzog ein verschämter rötlicher Schimmer den Horizont. Söldnerfüße hatten die Rebstöcke am Weinberg bei Höxter niedergetrampelt. Nur in Bodennähe hingen noch einige Trauben an den Spieren. Der Prediger pflückte sie dankbar und verzehrte sie im Weitergehen. Sie bedeuteten die erste Nahrung an diesem Tag. Er entledigte sich seiner Kleider, bündelte sie auf dem Kopf und watete und schwamm oberhalb von Lüchtringen durch den Strom. Als er das jenseitige Ufer erreichte, duckte er sich in die Weiden und horchte. Nein, es war niemand in der Nähe. Er versteckte sich in Ortsnähe im Schilf und wartete. Es blieb still. Das Fährhaus war nicht zerstört und hatte nur ein Fenster eingebüßt. Doch die Tür war verschlossen. Holtgrewe sprengte sie mit einem faustgroßen Stein und stand in der beklemmenden Enge. Wo mochte der Kelch versteckt worden sein? Der Raum enthielt nur geringes Mobiliar, ein Tisch mit drei Beinen und einen wurmstichigen Stuhl. Der Prediger suchte den gestampften Lehmboden ab. An einem Ort an der Wand schien die Erde heller als an anderen Stellen zu sein. Mit einer Tonscherbe lockerte er den Untergrund. Als er ellentief gegraben hatte, stieß er auf ein in Segeltuch gewickeltes Paket, und alsbald hob er den matt schimmernden goldenen Kelch aus der Grube.

Holtgrewe wischte die Erdkrumen von ihm ab und verbarg den teuren Fund unter seinem Wams. Dann verschloss er notdürftig die Tür und lief zur Weser hinab. Jetzt wartete er im Schilf, bis er die Stunde für günstig hielt, den Rückzug anzutreten. Dann stieg er eine halbe Meile flussaufwärts ins Wasser. Die Weser war hier nicht tief, doch reißend. Außerdem gab es einige Strudel. Mit seiner wertvollen Fracht war es doppelt schwer, das jenseitige Ufer zu erreichen. Jetzt mied er Straßen und Wege und wählte den Heimweg durchs Unterholz.

In der Nähe des Hungerbergs wurde Prediger Holtgrewe aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Vier halbmaskierte Männer traten ihm entgegen und richteten ihre Pistolen auf seine Brust.

„Na, Pfarrerchen, hast wohl das Geschäft deines Lebens gemacht, wie?“

„Was wollt ihr von mir, ich habe euch nichts getan!“, rief Holtgrewe und wusste zugleich, dass sein mutiges Rufen vergebens war, denn es befand sich niemand in der Nähe.

„Uns nicht, aber dem lieben Herrgott. Zeig doch mal her, was du unter dem Wams so fürsorglich verbirgst.“

Da der Prediger dieser Aufforderung nicht sogleich nachkam, entriss ihm einer der vier Ganoven den Kelch.

„Seht einmal her! Du hattest recht, Blaukopf, als du sagtest, der Herr Gottesgelehrte habe so geheimnisvoll getan, als er aus dem Fährhaus geschlichen sei. Und der Kelch war dort ja auch weg.“

„Du musst wissen, Pfarrerchen, wir sind nämlich Hellseher“, grinste einer der Strolche, den sie Ziegenbalg nannten. „Wir wussten, was im Fährhaus vergraben war. Der Küster hat es uns gerne anvertraut, bevor wir ihm das Lebenslicht auspusteten.“

„Mörder seid ihr, bestialische Mörder!“, rief der Prediger. „Und jetzt vergreift ihr euch an Gottes heiligem Abendmahlskelch.“

Das Lachen der vier Räuber schallte durch den Wald. Einer schlug sich wiehernd auf die Schenkel und konnte sich nichtberuhigen. Prediger Holtgrewe  bereute zugleich, welch dummes Gerede er von sich gegeben hatte.

„Weil du uns die Arbeit erleichtert hast, wollen wir dir großmütig das Leben schenken, Pfarrerchen“, feixte Blaukopf. „Troll dich, und lauf uns nicht noch mal über den Weg.“

Die Vier brachen zu einem Gehölz auf. Dort standen ihre Pferde. Holtgrewe hörte, wie das Getrappel leiser und leiser wurde.

 

Als der Prediger nach einem ermüdenden Tagemarsch erschöpft, entmutigt und mit leeren Händen in die Nähe seines Waldhauses kam, ertönte ein Pfiff, mit dem sich die Familie zu verständigen pflegte. Aus dem Gebüsch vor ihm lief Friedel dem Vater aufgeregt winkelnd entgegen und berichtete stockend, vier Männer seien in das Haus eingedrungen, hätten die Geschwister und ihn in einem Raum oben eingeschlossen und die Wohnung auf den Kopf gestellt. Auf dem Tisch stehe neben anderem Beutegut ein wunderschöner Kelch. Ihm, Friedel, sei es nach vielen Versuchen gelungen, durch das Fenster in einen Baum neben dem Haus zu springen und sich am Stamm hinabgleiten zu lassen. Jetzt säßen die Männer beim Rest der Suppe und ließen es sich gut gehen.

Holtgrewe wusste sogleich, wer in seinem Haus zu Tische saß.

„Vater, du darfst nicht hineingehen, sonst bist du des Todes. Es sind nämlich wüste Gesellen, die mit ihren Morden prahlen.“

„Und deine Geschwister? Sollen wir sie ihrem Schicksal überlassen?“, rief der Vater. „Wir müssen sie befreien, wie auch immer.“

Er gebot seinem Sohn, sich hinter einer dicken Buche niederzukauern und zu warten. Dann schlich er sich an das Haus heran und äugte durchs Fenster. Die Kerze war heruntergebrannt, aber in ihrem blakendem Licht  erkannte er, dass drei Ganoven, die Köpfe auf dem Tisch, schliefen, während der vierte, den Kopf an die Wand gelehnt, mit geschlossenen Augen in einer Ecke hockte. Sie gaben keinen Laut von sich. Neben dem Eingang lehnte eine Flinte. Holtgrewe überlegte, wie er sich ihrer bemächtigen konnte. Er schlich leise bis zur Zimmertür, dann stieß er sie mit einem Ruck auf und langte nach der Waffe.

„Hände hoch und keine Bewegung!“, schrie er in Erwartung, dass die Männer aufspringen und zu ihren Pistolen greifen würden. Doch sie rührten sich nicht. Der Prediger nahm den ersten der Vier näher in Augenschein, rüttelte ihn, hob den Kopf und ließ ihn los. Der Schädel krachte auf den Tisch. Die Pupillen des Mannes waren, wie er bei näherer Untersuchung bemerkte, starr. Offensichtlich war er tot. Auch die anderen gaben kein Lebenszeichen mehr von sich. Auf dem Tisch stand der leere Suppentopf. Holtgrewe nahm den eigenwilligen Geruch wahr, der dem Gefäß entströmte. Dann sah er es: Die Männer hatten die giftigen Beimischungen für die Arzneimittel für Gewürze gehalten, davon ausgiebig Gebrauch gemacht und sich unbewusst selbst den Tod gegeben.

Der Prediger lief vor das Haus und rief nach Friedel, der augenblicklich herbeieilte und an der Tür wie zu Eis erstarrte, als er die leblosen Räuber sah.

„Komm, wir müssen sie beiseiteschaffen, bevor deine Geschwister sie sehen“, ordnete Holtgrewe an. Mit viel Mühe gelang es ihnen, die Räuber nach draußen in die Dunkelheit und unter einen Holunderbusch zu schaffen. Am nächsten Morgen würden man sie beerdigen müssen.

Die Geschwister waren froh, ihren Vater wieder unter sich zu haben. Margret klammerte sich an ihn und wollte ihn den ganzen Abend nicht mehr loslassen. Gernot bestaunte den goldenen Kelch, der in der Mitte des Tisches prangte und das Licht der verlöschenden Kerze auf ihre Gesichter warf.

„Wenn du ihn verkaufst, wirst du eine Stange Geld heimbringen“, sagte Friedel stolz. Holtgrewe antwortete nicht. Denn er wusste mit einem Male, dass er das heilige Gefäß nicht veräußern, sondern seiner eigentlichen Bestimmung wieder zuführen würde.

* * *

Die Geschichte wurde veröffentlicht in:  
Hermann Multhaupt
, Geschichten aus der Zeit der Reformation
und des Dreißigjährigen Krieges im Weserraum, Mitzkat-Verlag,
Holzminden ISBN: 978-3-959540-34-6, 14,80 Euro.

 

Weitere Beiträge dieser Rubrik

Die Lilie von Corvey
von Hermann Multhaupt
MEHR
Werbung:
Unsere Website benutzt Cookies. Durch die weitere Nutzung unserer Inhalte stimmen Sie der Verwendung zu. Akzeptieren Weitere Informationen