Im 19. Jahrhundert gründeten sich zahlreiche kirchliche caritative Gemeinschaften und ordensähnliche Genossenschaften. Viele junge Menschen – vor allem Mädchen – folgten dem Aufruf von charismatischen Persönlichkeiten, um Christi Liebesgebot im Dienst am Nächsten zu erfüllen. In der Sorge für Behinderte, Kranke, vom Leben Benachteiligte, sozial Schwache sahen viele berufene Menschen ihre Lebensaufgabe, und diese freiwillige Verpflichtung erfüllten sie mit Liebe und Hingabe. So boten die neuen Genossenschaften vielen unverheirateten jungen Frauen eine neue Perspektive und Lebenserfüllung.
Zu den markanten Frauengestalten des 19. Jahrhunderts, die den Anruf Gottes verspürten, gehört Pauline von Mallinckrodt. Sie wird am 3. Juni 1817 in einer Stadt geboren, die von Karl dem Großen einmal zum Bischofssitz erkoren worden war und diesen Status während der Reformationszeit verloren hatte: Minden. Hierher war der aus Dortmund stammende Detmar von Mallinckrodt im Frühjahr 1816 versetzt und zum Direktor der Finanzabteilung der preußischen Bezirksregierung ernannt worden. Er heiratete 48jährig die 29 Jahre alte Freiin Bernhardine von Hartmann.
Damals, so wollte es das Gesetz, sollten alle ehelichen Kinder der Religion des Vaters folgen – und Paulines Vater war protestantisch. Die schwächliche Pauline aber wird dennoch in der Wohnung des Ehepaares vom Propst der katholischen Domkirche auf den Namen Maria Bernhardine Sophia Pauline getauft. Die Familie erwirbt um 1820/21die Staatsdomäne Böddeken bei Paderborn und macht sie zu einem wirtschaftlich ertragreichen landwirtschaftlichen Unternehmen.
1824 übernimmt der Vater Paulines das Forst- und Finanzwesen im Regierungsbezirk Aachen, wo Pauline, inzwischen schulpflichtig, eine private katholische Mädchenschule besuchen kann. Wenige Jahre später wechselt sie auf die zur Realschule umgestaltete Bildungsstätte St. Leonhard, die in einem ehemaligen Kloster untergebracht ist. Dort trifft Pauline von Mallinckrodt auf ihre sie prägende Lehrerin Luise Hensel (1798–1876), die sie im Alter nach Paderborn holte.
Biedermeierzeit – Romantik – noch lebt in Weimar der alte Goethe, der die Persönlichkeit als höchstes Glück des Menschen preist. Wilhelm von Humboldts Bildungsreform zeigt dem Staat seine Grenzen zeigen, Hegel dagegen spricht vom Staat als „der Gott auf Erden“ für den Menschen. Es ist eine bewegende Zeit mit lebhaften Eindrücken für das junge Mädchen. Im Haus ihres Vaters verkehrt u. a. der spätere preußische Ministerpräsident und Reichskanzler Otto von Bismarck-Schönhausen.
Nach vierjährigem Besuch der St. Leonhard-Schule wechselt Pauline von Mallinckrodt in das Pensionat der Madame de Beauvoir in Lüttich. Hier weht allerdings eine freireligiöse Luft.
Ostern 1833 kehrt sie ins Elternhaus zurück. Ein Jahr später stirbt ihre Mutter. Der wegen seiner konfessionellen Haltung bei der Beförderung zum Präsidenten schon zweimal übergangene Vater reicht 1839, im Alter von 70 Jahren, seine Pensionierung ein und zieht sich auf sein Gut Böddeken zurück, wo Pauline nun Gutsherrin und Erzieherin ihrer jüngeren Geschwister wird. Für die Winteraufenthalte dient ein Haus am Wall neben der Busdorfkirche in Paderborn.
Im Zeitalter der beginnenden Industrialisierung lernt Pauline von Mallinckrodt bald die Nöte der Menschen vor ihrer Haustür kennen; Tagelöhner und Handwerker drängen in die Stadt, Heimarbeit ist zum Scheitern verurteilt. Staatliche Hilfe für kranke und alte Menschen gibt es nicht. Die „städtische Armenkommission“ erfasst nicht alle schwerwiegenden „Fälle“. Pauline von Mallinckrodt gründet einen „Verein zur Pflege armer Kranker in ihren Häusern“ und gewinnt für diese Tätigkeit gleich gesinnte hilfsbereite Frauen; dem Zusammenschluss gliedert sie bald einen „Verein von Krankenpflegerinnen zu freiwilligen Nachtwachen“ an. Sie sorgt für Nahrung, ärztliche Betreuung, aber auch für geistige Anleitung der Helferinnen.
1840 richtet sie eine Kleinkinder- Bewahrschule als Tagesheimstätte ein, um kranke und arme werktätige Mütter zu entlasten. Zwei Jahre später gehören auch zwei blinde Kinder zu ihren Schutzbefohlenen, denen sie sich fortan mit besonderer Liebe widmet. Bald wächst die Zahl der Blinden, und mit Paulines Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit entsteht mit der Zeit die „Von Vinckesche Provinzial-Blindenanstalt“; von Vincke war Oberpräsident von Westfalen.
Am 4. April 1842 stirbt Paulines Vater. Da ihre Geschwister Georg, Hermann und Berta inzwischen erwachsen sind, kann der gemeinsame Haushalt aufgelöst werden. Das Haus am Busdorf in Paderborn wird verkauft und Pauline von Mallinckrodt kann ihrem Herzenswunsch, in eine Klostergemeinschaft einzutreten, die sich zugleich um blinde Kinder kümmert, neuen Auftrieb geben. Es gibt inzwischen eine Reihe neuer caritativer ordensähnlicher Gemeinschaften, doch speziell auf Blinde ist keine ausgerichtet. Paulines Bemühungen gipfeln 1849 schließlich in der Gründung einer eigenen Schwesternkommunität, der Kongregation der Schwestern der christlichen Liebe. Der Weg dorthin ist nicht leicht. Viele Reisen sind erforderlich, um die Blindenfürsorge kennenzulernen. Wie arbeiten die Blindeninstitute in Braunschweig, Berlin, München, Prag, Wien? Die politischen Strömungen der Zeit blasen den Katholiken ins Gesicht – Karl Marx und Friedrich Engels verkünden das „Kommunistische Manifest“. Ein Jahr vor ihrer Genossenschaftsgründung findet der erste „Allgemeine deutsche Katholikentag“ statt, der sich unter der Führung des Mainzer Bischofs Emanuel Ketteler nicht nur religiösen, sondern auch sozialen Fragen widmet.
Pauline von Mallinckrodt hat ihr ganzes Vermögen in ihr neues Werk eingebracht. Nun dienen die ersten zwei Jahrzehnte der inneren Festigung und äußeren Entfaltung der Gemeinschaft. Zunächst sind es vier Schwestern, die am 21. August 1849 in der Busdorfkirche eingekleidet werden und ein Jahr später am 4. November die Gelübde ablegen. Am 3. Januar 1851 schickte Mutter Pauline Schwester Mathilde trotz Bedenken der preußischen Schulbehörde als erste katholische Mädchenschullehrerin nach Dortmund. 1959 wird der Genossenschaft die Genehmigung erteilt, die Arbeit an öffentlichen Schulen aufzunehmen.
Der Zulauf zur neuen Kongregation ist erfreulich. Immer mehr junge Frauen wollen dem Beispiel Pauline von Mallinckrodts folgen, die Nächstenliebe unter allen Menschen zu leben.
In einer politisch unruhigen und brisanten Epoche (der sich ausbreitende Marxismus, der Krieg Preußen gegen Österreich, der deutsch-französische Krieg) werden den Schwestern immer mehr Aufgaben angetragen. Sie übernehmen die Leitung zahlreicher Schulen und Waisenhäuser. Neben dem äußeren Aufbau muss die Gemeinschaft jedoch auch innerlich gefestigt sein. Die Errichtung des Mutterhauses, der Mutterhauskapelle, die Neuerarbeitung der Konstitutionen zur päpstlichen Bestätigung und Anerkennung sind nur einige Schritte auf diesem von Bischof Conrad Martin stets unterstützten Weg. Zu Beginn des Kulturkampfes 1871, der der katholischen Kirche schweren Schaden zufügte, wirken 245 Schwestern in zwölf Elementarschulen, acht höheren Mädchenschulen, drei Pensionaten, vier Handarbeitsschulen, drei „Bewahrschulen“, zwei Waisenhäusern – in insgesamt 32 Niederlassungen.
Als am 8. Dezember 1869 das Erste Vatikanische Konzil beginnt, erneuern die Schwestern zum ersten Mal in allen Häusern ihre Gelübde und beten um den Segen für die in Rom versammelten Bischöfe und Kardinäle. Als der von Napoleon III. erklärte deutsch-französische Krieg ausbricht, entsendet Mutter Pauline im September 1870 Pflegerinnen in die Lazarette von Herzogenrath und Solingen. Sie rät den anderen Schwestern: „Halten wir uns still bei dem, was unsere Aufgabe ist: die Erziehung!“
Die Verkündung des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes hat zur Abspaltung der „Altkatholiken“ geführt. Bismarck hofft auf die Bildung einer deutschen Nationalkirche. Ein anderes Ziel hat er erreicht: Ein deutsches Reich ist – ohne Österreich – aus einer Kleinstaatengemeinschaft wiederentstanden. Die patriotischen Hoffnungen haben sich erfüllt, doch der preußische, protestantische Charakter des neuen Reiches führt zur Bildung einer neuen Partei in der Mitte zwischen Liberalen und Konservativen, des Zentrums.
Hermann von Mallinckrodt setzt sich im Reichstag dafür ein, dass kirchlichen Gemeinschaften in einer Reichsverfassung freie Betätigung garantiert wird und dass Deutschland gegen die Besetzung des Kirchenstaates bei der italienischen Regierung protestiert. Die zweite Forderung unterstützt Pauline von Mallinckrodt insofern, als sie Napoleon III. in seinem Asylschloss Wilhelmshöhe in Kassel über dessen Adjutanten nahe legt, das Unrecht des Krieges wieder gut zu machen, indem er dem Papst zu seinem Recht zu verhelfe – ein Schritt, der vor der Öffentlichkeit nicht geheim bleiben kann und ihr den Ruf einer „Ultramontanen“ einträgt.
Mutter Pauline bietet dem Heiligen Vater in einer von allen Schwestern unterzeichneten Ergebenheitsadresse die Möglichkeit an, bei einem eventuellen Aufenthalt in Deutschland das St. Josephshaus in Paderborn als Residenz zu betrachten. Die Forderungen der Zentrumsfraktion werden von der Regierung mit der Auflösung der katholischen Abteilung im preußischen Kultusministerium und der Entziehung der kirchlichen Schulaufsicht beantwortet. Ein „Kulturkampf“ bahnt sich an, die berüchtigten Maigesetzte des preußischen Kultusministers Falk 1883 sind die Folge. Als der Papst durch eine Enzyklika auch noch in den offenen Konflikt eingreift, folgen weitere Repressalien: Orden und ordensähnliche Kongregationen werden aufgelöst. Von nun an erreicht das Mutterhaus in Paderborn eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Prozesse, die verloren, Häuser die geschlossen werden. Mutter Pauline reist unermüdlich im Land umher, verhandelt, regelt, tröstet, sucht zu retten, was möglich ist. Die folgenden Jahre zehren an ihren Kräften. Wenigstens in anderen europäischen Ländern und auf dem amerikanischen Kontinent bieten sich Alternativen zu den bisherigen Schulen und Ordenshäusern. Die Mutter Stifterin selbst reist nach New York und durch das Land, um mehrere Pfarrschulen zu übernehmen und um die Schwestern in New Orleans zu besuchen. Papst Pius IX. empfangt sie am 4. und 23. Mai 1876 zur Audienz. Den aus seiner Diözese verbannten Bischof Konrad Martin besucht Mutter Pauline in der Festung Wesel, später in Schloss Neuburg (Holland), St. Guibert bei Brüssel, wo sie ein Haus angekauft hat, in das der Oberhirte übersiedelt. Am 1. Oktober 1879 reist Mutter Pauline über Bordeaux nach Süd- und anschließend Nordamerika. Ob in Argentinien, Chile oder in den Vereinigten Staaten – überall wird sie von den Schwestern herzlich willkommen geheißen.
Am 30. April 1881 geht das entbehrungsreiche ausgezehrte Leben Pauline von Mallinckrodts zu Ende. Sie stirbt 63jährig an den Folgen einer Lungenentzündung. Kurz vorher ist ihr Bruder Georg in Böddeken heimgegangen. Berta starb bereits 1861, Hermann 1874.
Ihre Lebensweisheit, die in den folgenden Worten gipfelte, gaben ihr den zähen Durchhaltewillen und ihre Tatkraft: „Der liebe Gott macht alles gut; ihn muss man zu jeder Zeit loben und preisen und heiter seinen Weg durchs Leben gehen. Alleluja!“